Amschwylers Welt

Der Anfang vom Ende?

Uhr | Updated
von David Klier

Amschwyler hat das Outsourcing-Projekt erfolgreich durchgeboxt. Seither plagen ihn aber verschiedene ­Bedenken zur Sicherheit des Netzwerks. Deshalb will er jetzt komplett auf IPv6 umstellen. Bevor er Stampfli überzeugen kann, hält jedoch ein völlig anderes Problem den ganzen Betrieb in Atem.

Urs Amschwyler lehnte sich zurück. Er versuchte, ein Gähnen zu unterdrücken. Der Blick auf die Uhr bestätigte ihm, dass es längst Zeit war, den Heimweg anzutreten. Ein letztes Mal überflog er seine Notizen am Bildschirm. Amschwyler nickte zufrieden, speicherte das Dokument ab und fuhr den Rechner herunter. Morgen würde er mit Stampfli darüber ­sprechen.

Amschwyler drehte gerade den Schlüssel im Schloss seiner Bürotür um, als er ein dumpfes Poltern hörte. Es klang, als wäre etwas Schweres zu Boden gefallen. Ein weiterer Blick auf die Uhr. Halb neun. Ausser ihm sollte um diese Zeit niemand mehr im Betrieb sein. Amschwyler folgte dem Geräusch. Die Tür zu Seidlers Büro stand einen Spalt breit offen. Ein schmaler Lichtstreifen fiel auf den Gang. Seidler und Überstunden? Das sah dem Produk­tionsleiter gar nicht ähnlich. Amschwyler lauschte. Rascheln, Kratzen, leises Fluchen. Amschwyler zuckte mit den Schultern. Was interessierten ihn die Überstunden Seidlers? Der IT-Chef der Stampfli AG machte auf dem Absatz kehrt und verliess das Gebäude.

Am nächsten Morgen war Amschwyler schon sehr früh wieder in Stanglisbiel. So früh, dass er damit rechnete, der erste im Betrieb zu sein. Als Amschwyler auf den Parkplatz der Stampfli AG fuhr, standen dort aber schon zwei Fahrzeuge: Der Zweitwagen des alten Stampfli – sein Range Rover war noch immer mitsamt Sohn verschwunden – und Seidlers Volvo. Seltsam, dachte sich Amschwyler. Es sah nicht so aus, als ob Seidler seinen Wagen seit gestern bewegt hatte. Amschwyler zuckte mit den Schultern. Was interessierten ihn die Überstunden Seidlers.

"IPv... wie viel?"

In seinem Büro angekommen, kündigte sich Amschwyler telefonisch bei Stampfli an. Amschwyler klemmte sich sein Notebook unter den Arm und machte sich auf den Weg zum Büro seines Chefs. Der Weg führte ihn zwangsläufig an Seidlers Büro vorbei. Die Tür war geschlossen. Amschwyler hielt inne. Wenn Seidler im Haus war, stand seine Tür immer offen. Irgendetwas stimmt hier nicht, dachte sich Amschwyler, ging aber weiter. Sein Anliegen dünkte ihm wichtiger als die Irrungen und Wirrungen des Produktionsleiters.

Amschwyler klopfte an die Tür seines Chefs, wartete auf das gebrummte "Herein" und trat ein. Stampfli wühlte sich gerade durch einen Stapel Unterlagen. Für jemanden, der sich vor nicht ganz zwei Wochen selbst aus dem Spital entlassen hatte, sah er erstaunlich fit aus, dachte Amschwyler. Trotzdem wirkte Stampfli unausgeglichen, rastlos. Was Amschwyler allerdings kaum verwunderte. Die Suche nach Stampflis Sohn Sylas verlief bisher erfolglos. Versuche, den Wagen zu orten, waren gescheitert. Gleiches galt für das Handy. Sylas wollte offenbar nicht gefunden werden.

Amschwyler setzte sich unaufgefordert auf einen der beiden Sessel vor Stampflis Schreibtisch. Erst jetzt blickte Stampfli auf. Der Alte zuckte zusammen. Obwohl er kaum fünf Sekunden vorher "herein" gebrummt hatte, schien er Amschwyler nicht bemerkt zu haben. "Amschwyler! Woher zum ...", Stampfli stockte. Er erinnerte sich, Amschwyler hereingebeten zu haben. Stampfli räusperte sich. "Guten Morgen, Amschwyler. Was kann ich für Sie tun?" Amschwyler klappte sein Notebook auf und öffnete das Dokument, an dem er am Vorabend gearbeitet hatte. "Herr Dr. Stampfli, ich würde gern unsere gesamte Netzwerkinfrastruktur auf IPv6 umstellen." Stampfli hob die Hand, noch bevor Amschwyler auch nur anfangen konnte, sich zu erklären. "IPv... wie viel? Was erzählen Sie mir da, Amschwyler? Muss ich mich wirklich jetzt damit befassen?", polterte der Alte. Amschwyler rollte mit den Augen. Stampfli sah nicht nur besser aus, er hatte auch zu seinem gewohnten Umgangston zurückgefunden.

Kaum Neuanschaffungen nötig

"Hätten Sie mich nicht unterbrochen, wüssten Sie jetzt vermutlich schon mehr. IPv6 ist der Nachfolger von IPv4. Es steht für Internet Protocol Version 6 respektive 4. Früher lief Version 6 unter dem Namen IPnG für Internet Protocol next Generation. Die Internet Engineering Task Force, IETF, legte diesen neuen Standard für die Übertragung von Daten, insbesondere im Internet, bereits 1998 fest." Amschwyler stoppte seine Ausführungen. Stampflis linkes Augenlied zuckte. "Was wird das hier, Amschwyler?" Stampflis Stimme überschlug sich schon fast wieder. "Wenn ich eine Geschichtsstunde will, gehe ich ins Museum. Kommen Sie zum Punkt. Was bringt das, und was kostet es?" Amschwyler blickte auf den Bildschirm seines Notebooks. "IPv6  hat eine ganze Reihe von Vorteilen. Für uns ist beispielsweise die höhere Sicherheit im Vergleich zu IPv4 interessant. IPv6 erlaubt es, Verbindungen zwischen Routern einfacher zu vertrauen. Adressen und Identitäten lassen sich leichter verifizieren. Das käme unseren automatischen Lieferantenbestellungen zugute." Amschwyler beobachtete über den Bildschirmrand hinweg Stampflis Reaktionen. Das linke Auge seines Chefs hatte sich wieder beruhigt. So weit, so gut. "Bevor ich weiter auf die Vorteile eingehe ... Im Zuge der Installation unserer Videoüberwachung haben wir unsere Netzwerkinfrastruktur ja fast vollständig erneuert. Wir müssen deshalb kaum Neuanschaffungen tätigen. Die neue Hardware ist bereits IPv6-kompatibel."

Bevor Stampfli etwas darauf entgegnen konnte, flog die Tür zu Stampflis Büro auf. Mit einem lauten Krachen stiess sie gegen den Türstopper. Das Türblatt zitterte. Nach Luft ringend stürmte Seidlers Praktikant in den Raum. "Herr Stampf... Ich meine Herr Dr. Stampfli ... Sie ... müssen ... Herr Seidler ... gefesselt ... schwere Kopfverletzung ... in seinem Büro." Amschwyler lief es kalt den Rücken herunter. Seidler hatte gar keine Überstunden geschoben. Jemand hatte ihn in seinem Büro überwältigt und sogar gefesselt. Und Amschwyler? Stand vor der Tür und hatte nichts unternommen. Er entschloss sich, das vorerst für sich zu behalten.

Der Tatort

Stampfli war indes aufgesprungen und hatte Seidlers Praktikanten am Arm gepackt. "Junge, was erzählst du uns da? Das kann doch gar nicht wahr sein." Das Gesicht des Praktikanten sprach jedoch Bände. Seine Augen bewegten sich wild hin und her, seine Beine zitterten, sein Gesicht hatte die Farbe der Wand angenommen. Schneeweiss. Stampfli entging das genauso wenig wie Amschwyler. Der Alte tauschte einen Blick mit seinem IT-Chef, liess den Jungen los und setzte sich in Bewegung.

In Seidlers Büro traute Amschwyler seinen Augen kaum. Er erkannte den Raum nicht wieder. Es sah aus, als sei ein Wirbelsturm hindurchgefegt. In der Ecke hinter der Tür lag Seidler. Gefesselt und geknebelt. Unter seinem Kopf eine Lache getrockneten Blutes. Seidler blickte zu ihnen auf, wimmerte durch den Knebel. Stampfli löste Fesseln und Knebel, half seinem Produktionsleiter auf die Beine. Amschwyler hob einen Stuhl auf, der mitten im Raum auf der Seite lag. Seidler setzte sich.

"Ihr Kopf sieht übel aus, Seidler. Amschwyler, rufen Sie einen Krankenwagen!" Stampfli blickte sich suchend um, bedeutete Seidlers Praktikanten ein Glas Wasser zu holen. "Seidler!", Stampfli versuchte nicht einmal, einfühlsam zu sein. "Was ist passiert? Wer hat Ihnen das angetan. Was hat der Angreifer gesucht?" Jürg Seidler blickte Stampfli aus leeren Augen an. Aus seinem Mundwinkel rann seltsam wässriger Speichel. Amschwyler zog Stampfli ein Stück zur Seite. "Dr. Stampfli, ich glaube, Seidler hat es ziemlich übel erwischt. Wir sollten warten, bis der Notarzt hier ist." Stampfli knurrte, schien es aber einzusehen. Seidler sah nicht so aus, als würde er je wieder sprechen. Vielleicht stand er aber nur unter Schock, dachte sich Amschwyler. "Lassen Sie uns einmal sehen, ob die Kameras im Gang den Eindringling aufgezeichnet haben."

Amschwyler stellte Seidlers Schreibtischstuhl auf und startete den Rechner. Er rief die Aufnahmen vom Vorabend auf. Im Schnelldurchlauf liess er sich Haupteingang, die Gänge vor den Büros und den Parkplatz anzeigen. Nichts. Ab Viertel nach sechs zeigten die Aufnahmen nur noch leere Gänge. Keine Bewegung. In dem Wissen, dass er selbst etwa gegen 20.35 Uhr zu sehen sein würde, stoppte er bei 20.30 Uhr. Amschwyler spulte langsam zurück. Da, plötzlich eine huschende Bewegung um 20.23 Uhr. Amschwyler hielt die Aufnahme an, zoomte, hellte auf und seufzte. Er blickte Stampfli an. Stampfli blickte Amschwyler an. Beide blickten wieder auf den Bildschirm. Der Angreifer trug eine Maske. Unmöglich, ihn so zu identifizieren. Amschwyler sah ausserdem, dass der Unbekannte Handschuhe trug. Fingerabdrücke würde die Polizei später also auch keine finden.

Seidlers Praktikant kam mit dem Wasser und zwei Sanitätern im Schlepptau zurück ins Büro. Die Sanitäter versuchten, Seidler anzusprechen, doch er blickte noch immer mit leeren Augen vor sich hin. Gelegentlich gab er ein leises Wimmern von sich. Die Sanitäter bugsierten Seidler auf eine Trage und transportierten den Produktionsleiter ab. Stampfli verständigte die Polizei und wies Amschwyler an, die Videoaufzeichnungen für die Ermittler bereitzuhalten.

Amschwyler fragte Stampfli, wie er denn nun bezüglich der Umstellung auf IPv6 vorgehen sollte. "Sie haben Nerven, Amschwyler. Seidler wird überfallen, aus Gründen, die wir nicht einmal erahnen können, und Sie wollen an irgendwelchen Netzwerkprotokollen herumdrehen." Stampfli schnaubte. "Wenn Sie glauben, dass es hilft, machen Sie einfach. Ich habe hier ein Verbrechen aufzuklären." Ja klar, dachte Amschwyler. Das Verbrechen würde die Polizei aufklären, nicht Stampfli. Der IT-Chef ging in sein Büro und machte sich an die Arbeit.

Die Vorteile IPv6

  • Eine Adresse pro Gerät: IPv6 steigert die Adressengrösse von 32 auf 128 Bit. Das erlaubt eine weitaus grössere Anzahl unterschiedlicher Adressen.
  • Keine umständlichen Adressübersetzungen mehr: Network Adress Translation (NAT) fällt mit IPv6 weitgehend weg.
  • Plug-and-Play: IPv6 erlaubt eine ­echte hierarchische Adressvergabe. In Kombination mit der vereinfachten Auto-Konfiguration in IPv6-Netzen entsteht so eine echte Plug-and-Play-Umgebung, in der Netzwerkgeräte ­eine eigene Adresse haben, die nicht bei jedem Einloggen neu vergeben werden muss.
  • Effizienteres Routing: Ein wesentlicher Vorteil ist das verbesserte Routing durch Veränderungen des IP-­Headers. Das vereinfach die Identifikation von Daten­strömen und Prioritäten in den IP-­Paketen. Routing-­Tabellen werden mit dem neuen Protokoll drastisch vereinfacht. Im Idealfall gibt es pro Kontinent nur noch eine Route.
Webcode
oVCT7LMr