Vis-à-vis

Judith Bellaiche über Politik, Innovation und eine fehlende Vision

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Judith Bellaiche ist GLP-Nationalrätin und Swico-Geschäftsführerin. Im Interview blickt sie zurück auf vier "durchzogene" Jahre als frischgebackene Nationalrätin und hofft auf ihre Wiederwahl im November. Vor allem wünscht sie sich aber eine ­Vision für die Schweiz.

Judith Bellaiche, GLP-Nationalrätin und Swico-Geschäftsführerin. (Source: Thomas Entzeroth)
Judith Bellaiche, GLP-Nationalrätin und Swico-Geschäftsführerin. (Source: Thomas Entzeroth)

Ihre erste Legislatur als Nationalrätin neigt sich dem Ende zu. Vier verrückte Jahre, könnte man wohl sagen. Welches waren aus Ihrer Sicht die Highlights und welches die Lowlights?

Judith Bellaiche: Es waren definitiv vier aufregende Jahre. Politisch betrachtet gab es mehr Tiefpunkte als Höhepunkte. Die Legislatur startete mit der Pandemie, was es für Neueinsteiger schwierig machte, sich zu etablieren. Sie brachte viele mühsame Situationen und förderte Versäumnisse der Vergangenheit zutage, insbesondere bei Fragen zur Digitalisierung in der Bundesverwaltung – Stichwort BAG und Faxgeräte. Besonders präsent ist für mich das gescheiterte Rahmenabkommen, für das es keinen Plan B gab. Nun stehen wir vor einem Scherbenhaufen. Dann kamen der Krieg gegen die Ukraine, die CS-Krise und das anhaltende Problem mit der Stromversorgung. Obwohl wir jetzt volle Stauseen haben, ist das Problem keineswegs gelöst. Zu den wenigen Erfolgen zählt etwa die AHV-Revision, die wir knapp durchgebracht haben, auch wenn es nur eine Minireform ist. Und das Klimaschutzgesetz, das mit über 59 Prozent der Stimmen von der Bevölkerung angenommen wurde. Ausserdem konnten wir die Ehe für alle und das neue Sexualstrafrecht unter Dach und Fach bringen. Die Bilanz ist sehr durchzogen. Wenn man erlebt, wie im Bundesrat gearbeitet wird, muss man sagen: Das hat Luft nach oben. Aus dem Blickwinkel der Innovation und der Reformfähigkeit eines Landes betrachtet, war das keine gute Legislatur.

Sie setzen sich politisch für die «Digitalstrategie auf Bundesebene, die digitale Bildung, Cybersicherheit und digitale Ethik» ein, wie Sie auf Ihrer Website schreiben. Was haben Sie im Zusammenhang mit diesen Themen bereits erreicht und was nicht?

Es ist schon einiges passiert, aber wir müssten viel weiter sein. Das kann ich nicht beschönigen. Immerhin habe ich einiges bewegen können. Zu Beginn der Legislatur habe ich das Bug-Bounty-Programm in der Bundesverwaltung und in den bundesnahen Betrieben etabliert, auch wenn darüber heute kaum noch gesprochen wird. Ich konnte Themen vorbringen, die überhaupt nicht auf der Agenda waren, vor allem aufgrund des fehlenden Sachverstands. Die EU-Digitalregulierung, die zunächst nicht auf dem Radar war, habe ich aufgegriffen. Auch Themen wie Chat-Kontrolle oder Quantensicherheit waren zuvor kaum beachtet worden. Ich freue mich über diese Entwicklungen.

Sie haben also im Parlament in puncto Digitalisierung ­einiges in Bewegung gebracht ...

Der Fokus lag vor allem auf der Cybersicherheit oder dem elektronischen Patientendossier, das nicht vorwärtskommt. Ich brachte zum Beispiel zusätzlich das Thema Grundbildung auf. Hier haben wir auch seitens Verband Druck gemacht, etwa mit unserem 10-Punkte-Programm zur Digitalisierung und unserer Bevölkerungsumfrage. Nun ist die Digitalisierung als Thema wenigstens im gymnasialen Lehrplan dabei. Ich war auch in regelmässigem Dialog mit der Bundesverwaltung und konnte mich aktiv einbringen.

Sie engagieren sich in Ihrer politischen Arbeit ausserdem in der Parlamentarischen Gruppe «Start-ups & Unternehmertum». Wie hat sich die Gruppe in den vergangenen vier Jahren entwickelt?

Diese Gruppe war ein gemeinsames Projekt, das ich und mein FDP-Kollege Andri Silberschmid parteiübergreifend aufgebaut haben. Am Anfang gab es viel Enthusiasmus. Dann kam Corona. Das hat uns sogleich einen ersten Anwendungsfall beschert: die Corona-Kredite, deren Umfang vom Erreichen bestimmter Umsatz- und Gewinnschwellen abhängig waren. Start-ups funktionieren aber nicht gleich wie andere KMUs. Da konnten wir uns erstmals einbringen und uns beziehungsweise den Start-ups gegenüber Bundesrat und Verwaltung Gehör verschaffen und gewisse Korrekturen erreichen. Wir haben auch Onlineveranstaltungen mit Start-ups organisiert, aber im Laufe der Legislaturpe­riode hat das Engagement etwas nachgelassen. Dennoch haben wir einen Plan für die nächste Legislaturperiode und werden weiterhin für die Belange von Start-ups kämpfen.

Welches sind aus Ihrer Sicht die grössten Probleme für ­Start-ups in der Schweiz?

Bürokratische Prozesse, können für Start-ups besonders lästig sein. Ich denke da an die Gründungs- und Nota­riatsverfahren, die Stempelsteuer usw. Aber das sind nicht die Hauptprobleme. Die grössten Herausforderungen für Start-ups sind oft die gleichen wie für die gesamte Wirtschaft, nur verschärfter. Der Zugang zu Talenten etwa ist besonders schwierig, weil Start-ups nicht die gleichen Gehälter wie grosse Unternehmen zahlen können. Ausserdem ist es schwierig, bei grösseren Skalierungen Schweizer Investoren über Series A oder B hinaus zu finden, wenn es also um Investitionen von 50 oder 100 Millionen Franken geht. Dafür interessieren sich zu wenig institutionelle Investoren.

Welche protektionistischen Regulierungen sehen Sie besonders als Bedrohung für die schweizerische Innovationskraft und warum?

Protektionismus schottet die Schweizer Wirtschaft zunehmend ab. Das trifft nicht nur auf die Landwirtschaft zu, sondern auch auf die Digitalisierung. In dieser Legislatur haben wir Gesetze wie die Lex Booking oder die Lex Netflix verabschiedet. Eine Lex Huawei ist in Beratung, die Vernehmlassung um das Leistungsschutzrecht findet aktuell statt. Diese Gesetze richten sich gegen die grossen Tech-Unternehmen und verhindern Innovation durch Wettbewerb in unserer Wirtschaft. Sie beschränken den Strukturwandel, den wir eigentlich zulassen sollten. Ausserdem werden Filmindustrie, Tourismus und Medien bereits mit Steuergeldern subventioniert. Irgendwo müssen wir uns fragen, ob wir wirklich Wettbewerb wollen oder nicht. Es ist schwierig, gegen den Protektionismus anzukommen, da es starke Lobbyinteressen gibt. Auch Emotionen spielen eine Rolle, wenn die einheimische Produktion durch Wettbewerb oder andere äussere Einflüsse gefährdet ist. 

Eventuell sollte man Protektionismus einfach durch ­Patriotismus ersetzen, dann ist man vielleicht näher an der Wahrheit …

Ja, das könnte man durchaus so sehen. Protektionismus geniesst in der Schweiz durchaus Sympathien. Als wettbewerbsfreundliche Politikerin kämpfe ich dagegen an, weil ich die Schweiz in einem grossen Ganzen sehe. 

Innovation wird nicht nur gebremst durch Regulierung, sondern auch durch den weitgehenden Ausschluss der Schweiz aus dem Horizon-Europe-Programm. Was kann die Schweiz tun, um die Forschung in der Schweiz zu fördern und die Wettbewerbsfähigkeit des Forschungsstandorts zu stärken?

Ich möchte erst einmal klarstellen, dass es keine «lokale Forschung» gibt. Forschung basiert heute auf internationaler Zusammenarbeit. Ich bin entsetzt über den Ausschluss aus Horizon, und die Folgen sind noch nicht richtig spürbar. Die erste Massnahme sollte sein, die Vollassoziierung wieder zu erreichen. Wissen und Forschung sind unsere einzigen ­Rohstoffe. Dass wir diese einfach so preisgeben, ist Selbstsabotage. Ausserdem sollten wir Forschungsallianzen ausserhalb der EU aufbauen. Es gibt attraktive Möglichkeiten in Grossbritannien, den USA, Asien usw. Dafür brauchen wir eine ausreichende Finanzierung. Wir haben mehr von Horizon profitiert, als wir gezahlt haben, nun geht der Trend in die andere Richtung, und das ist ein dramatischer Fehler des Bundesrats.

Wenn es so ein offensichtlicher Fehler ist, warum macht man es dann so?

Wir müssen den Staatshaushalt im Gleichgewicht halten. Es wird immer einen Verteilkampf um Staatsgelder geben. Im Moment haben wir seit langem wieder eine Kriegssituation in Europa. Es ist daher verständlich, dass Geld in das lange vernachlässigte Verteidigungsbudget fliessen soll, da dort Nachholbedarf besteht. Aber man kann das Geld nicht beliebig umverteilen. Wenn ich einen Steuerfranken ausgeben könnte, würde ich ihn in Bildung und Forschung investieren. Das führt zu Wohlstand und allem anderen, was wir brauchen.

Wie kann denn dieser «Forschungsnotstand» angegangen werden?

Es ist noch kein akuter Notstand, aber ein absehbarer. Wenn ich Bundesrätin wäre, würde ich für das Investieren in Forschung plädieren. Ein Signal an die Welt senden, dass wir die Forschung um jeden Preis verteidigen. Stattdessen gibt es Querschnittssparmassnahmen und widersprüchliche Zeichen. Als Gründernation sollten wir bereit sein, in Forschung und Innovation zu investieren.

Sie sprechen davon, welche Vision wir von der Schweiz haben sollen …

Das ist eine meiner Hauptkritikpunkte am Bundesrat! Es fehlt komplett an einer klaren Vision für die Schweiz. Ich stelle mir eine Schweiz vor, die progressiv ist, die eine moderne Wirtschaft hat, die an der Spitze der Technologie steht. Eine Schweiz, die für andere Länder ein Vorbild ist.

Sie sind Politikerin und Geschäftsführerin des Swico. Damit sind Sie natürlich am Puls der Schweizer ICT- und Digitalbranche. Wie gut passen Ihr politisches Engagement und Ihre berufliche Tätigkeit zusammen? Oder anders gefragt: Wie beeinflussen sich diese Rollen gegenseitig?

Die beiden Rollen ergänzen sich meiner Ansicht nach perfekt. Der direkte Kontakt mit Parlamentarierinnen und Parlamentariern ist sehr wertvoll. Ich habe einen Wissensvorsprung durch meine Tätigkeit in der ICT-Industrie und kann direkten Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen. Normalerweise wäre man auf Lobbyisten angewiesen. Aber ich bin ja quasi meine eigene Lobbyistin. Ich kann Themen neu besetzen und Sachverstand einbringen. Dadurch profitieren beide Seiten. Ich habe bereits Vorstösse durchgebracht und zeige, dass ich wirklich etwas bewegen kann.

Welche Themen treiben Swico kurz-, mittel- und langfristig um?

Das absolut grösste Thema für uns als Verband ist der Fachkräftemangel und der demografische Wandel. In diesem Zusammenhang geht es auch darum, wie wir Talente aus dem Ausland anziehen können. Dafür ist natürlich die Begrenzungsinitiative eine Katastrophe, die letztlich die Kündigung der Personenfreizügigkeit will. Auch das Thema der extraterritorialen Anwendung ausländischer Regulierung beschäftigt uns. Dabei geht es darum, wie diese sich auf Schweizer Unternehmen auswirkt und wie wir darauf reagieren sollten. Besser als abzuwarten und zu reagieren wäre vorauszusehen, wie sich Regulierung entwickeln könnte. Die Verbindung zwischen ausländischer und Schweizer Regulierung ist komplex. Wir sollten die besten Lösungsansätze vorschlagen und sicherstellen, dass die Schweizer Regulierung als vorbildlich angesehen wird. Aber aussenpolitisch haben wir leider keine Schlagkraft. Ausserdem treibt uns natürlich das Thema KI um. Hier möchten wir für die Industrie und unsere Mitglieder einen Mehrwert bringen. Für Swico bleibt die Kreislaufwirtschaft rund um Recycling wichtig. Wir liegen damit weltweit an der Spitze und wollen das auch bleiben.

Worauf werden Sie sich im Fall Ihrer Wiederwahl als Nationalrätin rund um die Digitalisierung und das Unternehmertum fokussieren?

Für mich steht weniger «Fokus» im Vordergrund, sondern mehr die Wirkung, die ich erzielen kann. Ich möchte das politische Netzwerk in Bern besser nutzen. Diese Beziehungen sind entscheidend, um Gesetze zu gestalten und zu verbessern. 

Ich höre heraus, dass Sie die Arbeit in Bern also gerne fortsetzen würden …

Ja, die Legislatur startete vor allem durch die Einschränkungen wegen Corona harzig. Die letzten zwei Jahre entwickelten sich dafür viel besser als erwartet. Darauf möchte ich weiter aufbauen.

Wie steht es um Ihre Chancen für die Wiederwahl?

Das wird sich zeigen. Ich stehe auf dem 6. Platz der GLP-Liste. Bei den kürzlichen Kantonsratswahlen konnten wir uns knapp halten, also wird es für die Nationalratswahlen eng. Ich brauche jede Stimme.


Persönlich
Judith Bellaiche (geboren 1971) beschloss schon als junge Jus-Studentin, sich einst politisch engagieren zu wollen. Nach einigen Berufsjahren in der Finanzdienstleistungsindustrie und ihrer selbstständigen ­Tätigkeit im Eventmanagement konzentrierte sich die grünliberale Politikerin während einiger Jahre ausschliesslich auf politische Mandate. Sie amtete acht Jahre als Gemeinderätin in der Exekutive ihrer Wohngemeinde Kilchberg und war weitere acht Jahren lang Kantonsrätin im Kanton Zürich, wo sie die GLP-Fraktion in der Kommission für Wirtschaft und Abgaben (WAK) vertrat. 2017 absolvierte sie einen Execu­tive MBA an der HSG. Seit 2019 ist sie als Nationalrätin tätig und hat Einsitz in der Rechtskommission.

Beruflich ist sie Geschäftsführerin des Wirtschaftsverbands Swico. Der Verband vertritt die Interessen der ICT-Branche in der Schweiz und organisiert in einem schweizweiten, freiwilligen System das saubere ­Recycling sämtlicher Digitalgeräte.

Bellaiche ist verheiratet und Mutter zweier Söhne. In ihrer Freizeit treibt sie Sport, liest und schaue sich gerne Filme an. Richtig leidenschaftlich wird die Nationalrätin, «wenn es ums Essen geht».

Quelle: judithbellaiche.ch

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