Geht Lernen, ohne selbst zu schreiben?
KI-Chatbots nehmen Studierenden und Forschenden das Schreiben ab. Der Sprachwissenschaftler Giorgio Iemmolo sagt, was wir für den Effizienzgewinn aufs Spiel setzen.

"Wenn wir das Schreiben KI-Chatbots überlassen, verlieren wir nicht nur ein Handwerk. Denn Schreiben ist mehr als das. Schreiben ist Denken. Das Eine ist dem Anderen nicht nachgelagert, es geschieht gleichzeitig: Sprachwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler haben gezeigt, dass Gedanken und deren Ausdruck gemeinsam entstehen. Autorinnen und Autoren, die um Worte ringen, feilen an ihrem Stil – und sie bilden und reorganisieren dabei ihr Wissen. Ich kenne es aus eigener Erfahrung: Kann ich komplexe Ideen nicht in einfache Worte fassen, habe ich sie noch nicht verstanden.
KI kann nützlich sein, um Ideen anzustossen oder neue Perspektiven einzunehmen: doch das eigentliche Denken beginnt erst, wenn wir selbst schreiben. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Schreiben ist schon lange ein Weg zur Erkenntnis: Die griechische Rhetorik, die mittelalterliche Scholastik und die wissenschaftliche Revolution nutzten das Schreiben, um Ideen zu entwickeln. Die strukturierte Argumentation war keine Dekoration, sondern die Art und Weise, sich der Wahrheit zu nähern.
Dass Schreiben Denken ist, stützt auch die Neurowissenschaft: Es bilden sich beim Schreiben neuronale Verbindungen, die für Abstraktion und langfristiges Erinnern entscheidend sind. Vor allem wer von Hand schreibt, aktiviert Gehirnregionen, die tiefes Lernen und das Denken in Konzepten ermöglichen. Schreiben hilft dem Gehirn, grosse Zusammenhänge zu erkennen und ein Fachwissen auszubilden, das nicht nur von Fakten lebt, sondern auf Verständnis fusst und in vielen unterschiedlichen Kontexten anwendbar ist.
Die Forschung zur Automatisierung weiss, dass kognitive Systeme verkümmern, wenn Denkaufgaben an Maschinen ausgelagert werden. Und es gibt noch einen zweiten Stolperstein: Die Erzeugnisse von generativer KI imitieren Wissen gekonnt und verschleiern so unsere schwindenden Kompetenzen. Wir klingen eloquent, ohne wirklich zu verstehen und ohne zu merken, dass wir nicht verstehen.
Wenn Studierende nicht mehr selber schreiben, leidet auch die Vielfalt der Perspektiven und Argumente. Das sollte uns zu denken geben, denn die Wissenschaft lebt von einem konstanten Fluss an neuen Stimmen, Fragen und Einsichten. Solche entstehen aber nur, wenn sich Menschen vertieft und kritisch mit Wissen auseinandersetzen.
Auch Mehrsprachigkeit ist ein Mittel dazu. Wer mehrsprachig liest und denkt, nähert sich einem Thema aus unterschiedlichen Perspektiven. Denn Sprachen organisieren Wissen unterschiedlich. Deutsch etwa abstrahiert in verschachtelten Sätzen. Französisch benutzt Gegensätze. Englisch argumentiert linear und nimmt den Leser an die Hand.
Das ist nicht nur Stil, es sind unterschiedliche Denkweisen. Wer mehrere Sprachen beherrscht, denkt flexibler. Generative KI tut das Gegenteil. Ihre Ergebnisse tendieren zum Mittelwert und widerspiegeln englische Normen. Die intellektuelle Vielfalt weicht sprachlicher Einfalt.
Universitäten und Schulen sollten also die Vielsprachigkeit fördern. Sie fördert Abstraktionsvermögen und vernetztes Denken. Weiter müssen Sie KI-freiem Schreiben einen festen Platz geben. Das können Prüfungen mit Stift und Papier sein oder Schreibaufgaben im Unterricht. Möglich sind auch kurze Interventionen, bei denen Studierende ihre Erkenntnisse über den Lernprozess festhalten – schriftlich oder in Form von gegenseitigem Feedback, dem Peer Review. Wichtig dabei ist, dass Dozierende geschult werden, die mit dem Schreiben verbundenen kognitiven Prozesse zu bewerten anstelle der Endresultate.
Ich rate den Universitäten aber vor allem, dem Drang nach Effizienz zu widerstehen, die KI-Tools versprechen. Denn vertieftes Reflektieren und Denken braucht Zeit, und die sollten wir uns trotz aller Effizienzversprechen der KI nehmen."
Der Experte
Giorgio Iemmolo ist Linguist und Direktor des Sprachenzentrums der ETH und der Universität Zürich. Er lässt Texte gerne von Sprachmodellen in andere Sprachen übersetzen und wieder zurück, um zu beobachten, wie sich Bedeutungen und Nuancen wandeln.
Dieser Beitrag ist zuerst auf der Website von ETH News erschienen.

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