Industrie 4.0

Deshalb werden Mensch-Maschine-Kooperationen wichtiger

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von Samuel Schlaefli, ETH News

Die Automatisierung der Arbeitswelt nimmt rasant zu. Doch wie finden Technologie und Mensch in einer digitalisierten Welt wirklich gut zusammen?

(Source: Heavypong / shutterstock.com)
(Source: Heavypong / shutterstock.com)

Intelligente Roboter, selbstfahrende Autos, allgegenwärtige Sensoren und Drohnen für den Warentransport. Was bei manchen Hoffnungen auf Produktivitäts-​ und Unternehmensgewinne weckt, lässt bei anderen die Alarmglocken klingen. 2013 publizierten der Ökonom Carl B. Frey und der Ingenieur Michael A. Osborne von der Universität Oxford eine Studie, wonach 47 Prozent der Jobs in den USA aufgrund rasanter Fortschritte in Robotik, KI und Big-​Data-Analytik bald "wegautomatisiert" werden könnten.

Führt also die vierte industrielle Revolution direkt in die Massenarbeitslosigkeit? Gudela Grote winkt ab. Die Studie von Frey und Osborne sei mittlerweile mehrfach relativiert worden, sagt die ETH-​Professorin für Arbeits-​ und Organisationspsychologie. Die Autoren liessen unter anderem unberücksichtigt, dass durch die Automatisierung nicht ganze Jobs, sondern vor allem einzelne Tätigkeiten wegfallen. "Wahrscheinlicher ist, dass Menschen und Maschinen künftig noch enger zusammenarbeiten werden", sagt Gudela Grote. "Wichtiger ist deshalb die Frage, wie sich Jobs verändern sowie welche Aufgaben der Mensch und welche die Maschine besser erledigen kann."

Mehr Freiheit dank Bauroboter?

Fragen der Automatisierung werden in der Arbeitspsychologie spätestens seit der industriellen Revolution erforscht. Trotzdem unterscheiden sich der aktuelle Technologiesprung und dessen Auswirkung auf den Arbeitsalltag von vorhergehenden "Revolutionen". "Die Technik wird zunehmend selbst zum Akteur", sagt Grote. Riesige Datenmengen, kombiniert mit KI und maschinellem Lernen, schaffen die Basis für "intelligente" selbstlernende Systeme. Dadurch können zunehmend auch komplexe und kognitiv anspruchsvolle Prozesse automatisiert werden. Zum Beispiel in der Baubranche. Haben Roboter einst nur Backsteine und Zementsäcke geschleppt, so bauen sie nun (fast) eigenständig tragende Mauerwerke.

Grote erforscht im Rahmen des Nationalen Forschungsschwerpunkts Digitale Fabrikation, wie sich die Arbeitsprozesse sowie Jobprofile in der Baubranche durch zunehmende Digitalisierung verändern. "Vielleicht wird der Maurer künftig mit einer 3-D-​Brille arbeiten und durch einen Roboter unterstützt werden." Ein entsprechendes System wurde kürzlich vom ETH-​Robotiker Timothy Sandy entwickelt. Ob dies von Arbeitnehmenden als Gewinn oder Verlust erachtet werde, hänge von der wahrgenommenen Arbeitsautonomie ab, so Grote. Die psychologische Forschung der vergangenen 70 Jahre habe gezeigt, dass die Freiheit der Arbeitsgestaltung entscheidend ist für die Zufriedenheit, Motivation, Leistung und Gesundheit von Mitarbeitenden.

Berechnung des Unberechenbaren

Melanie Zeilinger beschäftigt sich mit der Frage, wie Maschinen trainiert werden können, damit sie besser mit dem Menschen kooperieren. Ihre Gruppe am Institut für dynamische Systeme und Regelungstechnik ist auf die Entwicklung von Algorithmen für lernende Regelsysteme spezialisiert, und die Mensch-​Maschine-Interaktion ist eine Anwendung solcher Systeme. Damit diese Zusammenarbeit funktioniert, müssen die Maschinen ständig Voraussagen darüber treffen, wie der Mensch als Nächstes agieren könnte. "Wir Menschen sind nicht deterministisch, reagieren in derselben Situation immer ein wenig anders und individuell unterschiedlich", erklärt Zeilinger. "Deshalb müssen wir mit stochastischen Systemen und Wahrscheinlichkeiten arbeiten und den Systemen erlauben, sich anzupassen."

Ein Kernthema sei dabei die Sicherheit, die vom Regelalgorithmus gewährleistet sein muss. Dafür lässt sie Maschinen auch mal direkt vom Menschen lernen. So lässt sie Kuka-​Roboterarme, wie man sie aus Fertigungshallen kennt, über ein passives dreigliedriges Gelenk mit Probanden interagieren. Die Bewegung des Armes wird durch Sensoren an den Roboter übermittelt, damit der Steuerungsalgorithmus diese lernen und ein vorausschauendes Modell für Bewegungsabläufe trainieren kann. In der Fabrik der Zukunft wird entscheidend sein, dass der Roboterarm die Bewegungen seines Gegenübers antizipieren kann.

Das Ergebnis solcher Forschung nennt Zeilinger "Human in the Loop"-​Regelsysteme. Eine Anwendung ist der Lokomat, ein Gehroboter für die Rehabilitierung von Patienten mit neuronalen Beeinträchtigungen. Entwickelt wurde dieser durch die Hocoma AG gemeinsam mit dem Sensory Motor Systems Lab am Departement Gesundheitswissenschaften und Technologie. Therapeuten können über ein Interface eine Behandlungseinheit basierend auf 13 Parametern steuern. Zeilingers Gruppe hat einen Algorithmus entwickelt, der Vorschläge für die Parameteranpassung macht. Trainiert wird der Algorithmus, indem er die Anpassungen der Therapeutin aufzeichnet und deren Entscheidungen lernt. "Ziel war, das Expertenwissen der Therapeuten in unseren Algorithmus zu integrieren", erklärt Zeilinger. Während die Zielfunktion des Systems, nämlich "gutes" und "gesundes" Laufen, nur schwer mathematisch fassbar ist, kann ein ausgebildeter Therapeut diese Funktion sehr gut beurteilen. Nach durchschnittlich weniger als zehn Parameteranpassungen konnte sich das System an eine gesunde Testperson anpassen und machte den Therapeuten sogar brauchbare alternative Vorschläge.

Bildung in der "Industrie 4.0"

Die zunehmende Mensch-​Maschine-Interaktion wirft für Gudela Grote auch politische Fragen auf. "Die Automatisierung zwingt uns, unser Bildungssystem kontinuierlich zu hinterfragen." Noch sei zum Beispiel nicht klar, wie viele Berufsleute und Akademikerinnen in der "Industrie 4.0" benötigt werden. Zudem müsse die Gesellschaft verhandeln, welchen Grad an Automatisierung sie überhaupt will – insbesondere bei komplexen und potenziell gefährlichen Systemen wie AKWs oder Flugzeugen. Wer trifft im Risikofall die letzte Entscheidung, der Mensch oder die KI? Und wer trägt die Verantwortung für die Konsequenzen?

Als Arbeitspsychologin Ingenieure zu beraten und deren Annahmen zu hinterfragen, sei manchmal frustrierend, erzählt Grote. "Obschon Ingenieure Arbeit gestalten, werden wir oft als Störenfriede wahrgenommen." Derzeit erkenne sie jedoch einen Generationenwandel; ein frischer Wind wehe durch die Hallen der ETH. Melanie Zeilinger hat aktuell zwar noch keine Arbeitspsychologin in ihrer Forschungsgruppe. Das könne sich in Zukunft durchaus ändern, sagt sie. "Die Personalisierung von intelligenten, selbstlernenden Systemen ist für den Erfolg von Mensch-​Maschine-Interaktionen entscheidend."

Dieser Beitrag erschien zuerst bei ETH News.

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