Porträt: Thorben Croisé, Atfinity

Ein Baukasten für Banken-Compliance

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Ein Tool, mit dem Banken ihre Prozesse beschreiben und Compliance-Probleme lösen können: Das ist das Produkt von Atfinity. Die Zürcher Fintech-Firma ist noch keine vier Jahre alt und hat sich schon zweimal neu erfunden – mit verrückten Ideen, Herzblut und Gemeinschaftssinn.

Thorben Croisé, CTO und Mitgründer von Atfinity. (Source: Netzmedien)
Thorben Croisé, CTO und Mitgründer von Atfinity. (Source: Netzmedien)

Wer sein Geld mit Geld verdient, muss Regeln befolgen – zumindest in der Regel. Für Banken gilt das erst recht. Sie müssen kontrollieren, ob sie Gesetze, Normen und selbstauferlegte Richtlinien einhalten. Compliance nennt sich das. Die meisten Finanzinstitute beschäftigen ganze Abteilungen, die sich darum kümmern. Ein schwieriger Job. Denn die Abläufe in einem Unternehmen, die Standards der Branche und die gesetzlichen Vorschriften ändern sich ständig.

Das Problem liegt aber woanders. Und zwar da, wo Compliance mehr Bürokratie schafft, als Rechtsrisiken abbaut. So gut wie jedes Grossunternehmen kennt das: Wenn ein neues Gesetz oder eine Verordnung wie die EU-DSGVO naht, betrachtet man die Umsetzung der Regelung als Projekt. "So entstehen Insellösungen", sagt Thorben Croisé. Und solche Insellösungen führen dazu, dass ineffiziente Prozesse entstehen, was wiederum viel Zeit und Geld kostet.

Für dieses Problem hat Croisé's Firma Atfinity eine Lösung parat: eine Software, mit der sich alle möglichen Compliance-Abläufe aufgleisen und automatisieren lassen. Genauer gesagt ist es ein Framework für Nicht-Programmierer. Eine Entwicklungsumgebung, mit der Banken ihre Regeln beschreiben, Formulare aufsetzen und schliesslich eigene Compliance-Tools entwickeln können. Dieses Produkt lancierten Croisé und sein Geschäftspartner Alexander Balzer allerdings erst vor einem halben Jahr. Angefangen hatte alles ganz anders.

Fin und Tech gesellt sich gern

Es war Zufall, dass die beiden gleichzeitig in die Schweiz zogen. Das war 2007. Balzer kam aus Berlin hierher und machte ein Traineeship bei der Credit Suisse. Croisé, ursprünglich aus der Nähe von Düsseldorf, begann indes sein Informatikstudium an der ETH. Ein gemeinsamer Bekannter hatte sie zusammengebracht. Sonntags trafen sie sich, kochten gemeinsam und brüteten Ideen aus. Croisé erinnert sich schmunzelnd: "Wir waren fasziniert vom Zusammenspiel von Banken und Informatik. Und wir dachten: Wahnsinn, was man da alles verbessern kann". Doch es dauerte eine Weile, bis die Ideen ausgereift waren.

Balzer blieb erst mal bei der Bank und stieg dort auf. Als er gesehen hatte, was zu sehen war, schrieb er sich an der Uni Maastricht ein. Da gibt es einen Studiengang, der nennt sich Entrepreneurship. Schon am ersten Tag gründet man ein Start-up – mit dem Hintergedanken, dass das ohnehin schief geht, die Studenten daraus lernen und es im nächsten Semester besser machen. Balzers erster Versuch bestand darin, bedruckte Regenponchos zu verkaufen.

Ein Rädchen im Getriebe

Croisé arbeitete derweil beim Browserhersteller Opera in Oslo. Da hängte er sich richtig rein, schuftete bis zu 70 Stunden die Woche. Eine Zeit lang gefiel es ihm ganz gut, wie er sagt. Doch allmählich habe er gemerkt: "Da war diese latente Unzufriedenheit, die ich mit mir herumschleppte." Der Grund für dieses Gefühl liegt gewissermassen in der Natur grosser Unternehmen: "Du kannst zwar Projekte stemmen und deine Nischen schaffen, doch die Entscheidungen fällt jemand anders. Und am Ende hast Du keine Ahnung, warum man jetzt diese oder jene Strategie fährt. Ich wollte das aber unbedingt verstehen. Ich wollte die strategischen Entscheidungen nachvollziehen können."

2015 kam Croisé zurück nach Zürich. Er fing bei Beekeeper an, einer jungen Softwarefirma, die eine Messenger-App für die Mitarbeiterkommunikation entwickelt. "Bei einem Start-up kann man besser hinter die Kulissen schauen“, sagt er. Lange hielt es ihn jedoch nicht. Nach knapp einem Jahr nahm er sich vor, etwas Eigenes aufzubauen.

Balzer war an einen ähnlichen Punkt gelangt: Diplom in der Tasche, zurück in der Schweiz, gute Aussichten auf einen gut bezahlten Job, aber keine Lust auf Routinearbeit. Die beiden trafen sich wieder und fassten einen Entschluss. Croisé erinnert sich und schmunzelt wieder: "Der Plan war einfach: Lass uns eine Firma gründen und die ganze Finanzindustrie umkrempeln." Im Februar 2016 war es soweit. Der Start von Atfinity war hoffnungsvoll – und etwas holprig.

Wer zuerst kommt, fällt zuerst

Die erste Idee war, eine sichere Messaging-App zu entwickeln. Damit sollten Vermögensverwalter mit ihren Kunden kommunizieren, ihnen etwa Investment-Tipps schicken können. Croisé baute einen Prototyp und Balzer klopfte den Markt ab. "Das Interesse war offensichtlich da, es hat nur keiner gekauft", sagt Croisé und lacht.

Warum hat niemand angebissen? Die Sache war komplizierter als gedacht. Nicht wegen der Technik, sondern wegen der Compliance-Vorgaben. Die meisten Vermögensverwalter hatten noch nicht einmal ein richtiges CRM, sprich: keine Kundenverwaltungssoftware. Es fehlte schlicht die Grundlage, um so eine Messaging-App einführen zu können. Also machten Balzer und Croisé das, was jedes vernünftige Start-up machen würde: einen Pivot. Sie steckten die Idee mit dem Chat-Kanal in die Schublade und dachten sich etwas Neues aus. Frei nach dem Motto: "Wenn die Basis fehlt, dann basteln wir sie halt selbst." Klingt einfach, ist es aber nicht.

Pivotieren geht über Schwadronieren

Man muss schon ziemlich verrückt sein, um ein eigenes Framework zu bauen. Aber es ging nicht anders. Um über die Runden zu kommen, hatten Croisé und Balzer begonnen, Softwareaufträge zu erledigen. Die hatten zwar allesamt mit Compliance zu tun, aber die Anforderungen waren von Kunde zu Kunde völlig unterschiedlich. "Wir wollten die Software so flexibel anpassen können, dass man alles Mögliche damit machen kann", sagt Croisé.

Es kamen mehr und mehr Aufträge rein. Neun Monate nach der Gründung arbeiteten schon sieben Leute in der Firma, allesamt ETH-Informatiker – bis auf Balzer, der durch den Kundenkontakt etwas herausspürte. Er witterte die Chance, ein Produkt zu entwickeln, das die Banken brauchen: eine Lösung fürs Onboarding von Kunden.

Neues Produkt, neue Zielgruppe: Statt Vermögensverwalter adressierte Atfinity nun mittelgrosse Privatbanken mit 100 bis 1000 Mitarbeitern. Mit dem Onboarding-Tool konnten die Banken ihren Kunden die Möglichkeit bieten, ein Konto vollständig digital zu eröffnen.

Das Produkt kam gut an. Atfinity ist schnell gewachsen und beschäftigt mittlerweile 18 Mitarbeiter. Mit den Auftragsarbeiten ist allerdings Schluss. Denn vor sechs Monaten haben Croisé und Balzer zum zweiten Mal die Weichen neu gestellt, weil ihnen klar wurde: Das Onboarding von Neukunden ist nur ein Spezialfall. Ihr Framework kann wesentlich mehr – es kann das eigentliche Produkt sein.

One engine to rule them all

Das Framework nennt sich Regfinity. "Technisch gesehen ist es eine Rule Engine", sagt Croisé. Einfacher gesagt: ein Tool, mit dem Banken alle möglichen Prozesse digitalisieren und Workflows optimieren können. Was das konkret heisst? "Der Schlüssel zur Compliance ist eine korrekte Kundenbeziehung. Und aus Sicht einer Bank bestehen Kundenbeziehungen aus Verträgen und Formularen", sagt Croisé. Regfinity dient nun dazu, solche Formulare schneller aufzusetzen – und zwar so, dass es keine Doppelspurigkeit gibt, die Prozesse reibungslos ablaufen und automatisch regelkonform sind.

Mit dem Tool kann eine Bank also alle Prozesse digitalisieren – beispielsweise das Onboarding von Kunden, das Onboarding von neuen Mitarbeitern, Spesenabrechnungen, Entlassungen, aber auch die Vergabe von Krediten, Hypotheken und andere Finanzierungsgeschäfte.

Der Clou an der Sache: Alle, die sich mit Formularen und Weisungen befassen – typischerweise sind das Juristen – könnten mit dem Tool umgehen. Man setzt damit ein Formular auf und kann schliesslich den ganzen Prozess, den das Formular in die Wege leitet, als Mobile-App oder als Webapplikation abbilden.

"Wenn man das mit mehreren Formularen gemacht hat, kommt dieser magische Moment", sagt Croisé. Jedes Mal, wenn er das Tool einer Geschäftsleitung zeigt, ist das der Augenblick, in dem der CEO verdutzt schaut und fragt: "Was ist das denn für ein Onboarding? Warum stellen wir so viele Fragen?" Das sind die Momente, wo sich Croisé das Schmunzeln wohl verkneifen muss.

Zusammenstehen sorgt für Bewegung

Es ist Freitagmittag, kurz nach Zwölf. Bei Atfinity heisst das: Pizzatag. Das Team trifft sich in einer Büroecke, die an ein Bistro erinnert: gedeckte Tische, ein Büffet mit Frühstücksflockenspender und eine silbern glänzende Kaffeemaschine. Alle paar Wochen gibt es hier einen Brownbag-Lunch. Da schnappt sich jeder etwas zu Essen und ein Teammitglied hält einen Vortrag oder zeigt ein Video – etwa über eine neue Software, die auf den Markt kommt. "Das fördert den Wissensaustausch, ist aber auch gut für den Teamgeist", sagt Croisé.

Miteinander essen und diskutieren: Das schweisst zusammen, ebenso die Stand-ups: Täglich stehen die Mitarbeiter zusammen und erklären sich gegenseitig, was sie tags zuvor gemacht haben, was heute ansteht und wo Probleme auftauchen könnten. "Alle sollen alles wissen", sagt Croisé. Das soll die Mitarbeiter einbinden, ihnen das Gefühl geben, dass sie mehr sind als Rädchen im Getriebe. Ein Anliegen, das Croisé seit seiner Zeit bei Opera am Herzen liegt.

Das Bild vom einsamen Programmierer ist falsch, wie er sagt. Denn: "Informatik ist eine soziale Aktivität." Wer entwickeln will, muss sich mit allen möglichen Menschen verständigen können – mit Kunden, Designern, Testing-Teams und natürlich mit anderen Entwicklern. "Deswegen ist ein vielfältiges Team, mit verschiedenen kulturellen Hintergründen, mit Frauen und Männern, viel besser als ein homogener Haufen, der sich im Kreis dreht."

Wie sieht die Zukunft aus? Zunächst einmal soll Atfinity weiterwachsen – allerdings nicht nur aus Selbstzweck. "Es ist schwierig, Geld zu verdienen und gleichzeitig ein gesellschaftliches Problem zu lösen", sagt Croisé. Doch genau das will er mit Atfinity im Endeffekt tun: "Wenn wir Finanzinstitute effizienter machen und ihre Compliance-Probleme lösen, erleichtern wir auch die Arbeit der Kontrollbehörden." Und das soll sich schliesslich auch volkswirtschaftlich auszahlen – indem eine bessere Compliance die nächste Finanzkrise unwahrscheinlicher macht.

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