Gastbeitrag

Das neue Digital

Uhr
von Matthias Horx, Trendforscher

Die Coronakrise beschleunigt unsere Auseinandersetzung mit dem Digitalen - in welche Richtung? Eine Analyse des Trendforschers Matthias Horx.

Matthias Horx, Trend- und Zukunftsforscher (www.horx.com). (Source: Klaus Vyhnalek (www.vyhnalek.com))
Matthias Horx, Trend- und Zukunftsforscher (www.horx.com). (Source: Klaus Vyhnalek (www.vyhnalek.com))

Würden sie ein Wirtshaus betreten, in dem sie jederzeit am Tresen eins auf die Fresse bekommen können? Wo eine Horde von wildgewordenen Pöblern sie jederzeit beschimpfen, treten und bespucken kann? Würden Sie sich gerne in Räumen bewegen, deren komplizierte Eintritts-Codes sie sich nie merken können, aber ständig eingeben müssen, immer und immer wieder, und dann auch noch ein zweites Gerät brauchen, dessen Batterie aber gerade leer ist, weil die Kinder das Lagekabel geklaut haben?

 

Würden Sie gerne eine Technik benutzen, die ihnen eine kostenlose Dienstleistung bietet, aber in Wirklichkeit das Ziel hat, Sie mit überall aufpoppender Werbung zu manipulieren?

 

Nein, sie sind ja nicht bescheuert. Aber das Reich Internet, das gelobte Land Digitalien, funktioniert genau so: Alles ist unsicher, verspricht uns aber immerzu das Gegenteil, die große Smartness, den endgültigen Komfort. Ständig werden uns Wunder versprochen, die sich dann doch als Profanitäten herausstellen? Wie lange lassen wir uns das noch gefallen?

 

Erinnern wir uns: Vor einem knappen Vierteljahrhundert riefen die Gurus der Technologie das Digitale Zeitalter aus. Was waren das für Träume! Der amerikanische Management Guru Niclas Negroponte sprach in seinem Weltbestseller "Being Digital" vom Zeitalter der "decentralization, globalization, harmonization, and empowerment of the future". Digital-Gurus wie der Wired-Gründer Kevin Kelly beschworen in magischen Worten den "Geist in der Maschine", der zu einer Welt unbegrenzter Produktivität, Kooperation und Kreativität führen würde. Einer Welt, in der die Computer uns verstehen wie Menschen – ständig an unserer Seite, ständig um unser Wohlergehen bemüht.

 

Irgendwie hat sich diese Vision bewahrheiten – und sich im gleichen Moment als ein kleines Gruselkabinett herausgestellt. Das kleine "smarte Ding" da auf dem Küchenbord steht uns tatsächlich rund um die Uhr für Fragen zur Verfügung. "Alexa, wie wird das Wetter?" Aber irgendwie werden wir das Gefühl nicht los, dass eher wir dem Gerät zur Verfügung stehen. Beziehungsweise jenen übermächtigen Konzernen, die damit ein ungeheuer profitables Wertschöpfungsmodell betreiben, in dem wir die nahezu kostenlosen Arbeiter sind.

 

Die digitale Trance

 

Woran erkennt man einen Kult? Ein Kult ist ein erstarrter Mythos, der zum Dogma wurde. Man erkennt ihn daran, dass sein zentrales Glaubenstheorem nie in Frage gestellt werden kann. Reden sie mit einem Zeugen Jehovas, einem Corona-Verschwörungs-Fan. Sie werden ein ähnliches Leuchten in den Augen finden wie bei jenen, die uns seit vielen Jahren die Erlösungsphantasien des Digitalen predigen. Das beunruhigende ist nur, dass die Jünger des Digitalismus sich nicht nur auf randständigen Demontrationen tummeln, sondern auf so gut wie allen Business-Podien, auf jeder Wirtschafts-Veranstaltung. Und immer mehr auch in der Politik.

 

Anhänger des Digitalismus erkennt man daran, dass sie niemals in Zweifel am Segen des Silicon Valley geraten, wie man diesen neuen Vatikan nennt. Das Digitale wird alles lösen, verbessern, "smart" machen, es ist niemals verantwortlich für seine Nebenwirkungen. Egal, ob sich Bitcoins als knallharte Spekulationswährung herausstellen oder Cambridge Analytica – fortgeschrittene Datenanalyse – sich als scharfes Schwert im populistischen Kampf gegen die Demokratie erweist – das Digitale selbst hatte damit niemals etwas zu tun.

 

Im Zentrum der Heilserwartung, die sich letzten Endes aus der tiefen menschlichen Sehnsucht nach Wundern speist, steht seit einigen Jahre die Künstliche Intelligenz. Ihr Mythos ist deshalb so unschlagbar, weil sie die Fehler und Unzulänglichkeiten des menschlichen Hirns wettmachen soll. Sie soll mit unendlicher Rechenkraft jene Dinge erkennen, entdecken, regeln, entscheiden, an denen wir fehlbaren Menschen nicht recht weiterkommen. Was sollte sie nicht alles lösen und er-lösen! Rund-um-die-Uhr-Bildung! Autoverkehr – keine Staus mehr! Sichere Logistikketten! Intelligente Städte! Und schließlich: Langes, gesundes Leben. Oder am besten gleich: Unsterblichkeit!

 

Wer's glaubt, wird tatsächlich selig. Dass die Idee der Künstlichen Intelligenz etwas zutiefst Frommes transportiert, eine göttliche Projektion, fällt inzwischen niemandem mehr auf.

 

Der Mythos bekommt Risse

 

Es gibt im Grunde zwei Computerwelten. Die eine existiert im Unscheinbaren und Alltäglichen, in den elektronischen Steuerungen von Fabriken, in den Warenströmen, Maschinenparks, in Büros, Behörden, Logistik, Mobilität, überall dort, wo schlichtweg Daten generiert und sortiert werden müssen. In dieser Alchemie des Alltäglichen ist der Microchip tatsächlich der Botschafter des Fortschritts. Erstaunlicherweise aber hat sich eines der Grundversprechen der digitalen Technik nie realisiert: Im Herzen unserer Ökonomie sollte sie für einen epochalen Aufschwung der Produktivität sorgen. Seit vielen Jahren wundern sich die Ökonomen, warum genau das nicht eintrat.

 

Besonders versagt hat das Digitale in seinem "Empowerment"-Versprechen. In vielen Kontexten haben digitale Technologien die sozialen Differenzen sogar massiv verschärft. Besonders verheerend ist die Bilanz jedoch ausgerechnet dort, wo das Digitale sich direkt, als genuines Vernetzungsmedium, in die menschliche Kommunikation eingemischt hat. Gerücht und Polarisierung, Shitstorm und Hassmails, Fake News und Verschwörungswahn dominieren inzwischen den öffentlichen Ton der öffentlichen Konversationen, die doch jede Gesellschaft braucht, um ihre Zukunft zu bestimmen. Hier, im Herzen der humanen Kultur, ist durch die digitale Vernetzung etwas grundlegend schiefgegangen. Das Ergebnis ist "Weaponized Media" – Medien, die, um in den Metaphern der Virologie zu bleiben, regelrechte Infektionsschleudern für Bösartigkeit und aggressive Spaltung sind. Ohne diese Pathologien zu überwinden, kann sich das digitale Versprechen nicht regenerieren.

 

Facebook hat jetzt – wieder einmal – wirksame Maßnahmen gegen Hass und Lüge im Netz angekündigt. Und für 120 Millionen Euro ein "Oversight Board" gegründet, eine Stiftung, die ein Gremium von unabhängigen Denkern organisiert, die Facebooks "Hygiene"-Maßnahmen steuern und überwachen soll. Gleichzeitig zahlt der Konzern 50 Millionen Dollar an ehemalige "Inhalteprüfer", die bei der Aussortierung des Hassmülls massive psychische Schäden davontrugen.

 

Wohin geht diese Entwicklung? Wohin kann sie eigentlich noch gehen?

 

Mit der Technik über Technik hinausdenken

 

Die Corona-Krise hat in ihrer frechen Art, in unsere Selbstbilder und Kulturweisen einzugreifen, auch unsere Kommunikationsmuster durcheinander gewirbelt. Rasend schnell erlernten wir Skype und Zoom, lernten wir Fernkommunikation in nie dagewesener Intensität. Im selben Moment entstand ein Trend in die andere Richtung, ins Re-Analoge: Wir räumten unsere digitalen Schreibtische auf – und griffen plötzlich wieder zum Telefon, diesem altmodisch-analogen Medium, dass sich besonders für eine intime Fernverbindungen eignet. Das wir aber im Rauschen der Klicks und Messages schon irgendwie vergessen hatten. Wir lasen wieder Bücher, sahen alte Schwarzweißfilme an. Und frühstückten plötzlich ohne Smartphones auf dem Tisch mit der Familie oder Corona-Gemeinschaft miteinander. Digitalierung und Analogisierung geschahen plötzlich parallel – und nahezu reibungslos.

 

Spätestens nach der 50sten Zoom-Konferenz wurde uns dann schmerzlich klar, was wir vermissten. Verbindung und Verbildlichkeit durch Gesten, Mimik, Realkontakt. Begegnung durch Bewegung und Körperlichkeit.

 

In der Corona-Krise hat sich das Digitale nicht "endgültig durchgesetzt", wie viele Digitalisten jetzt behaupten. Es hat sich ins Analoge hinein differenziert. So entsteht eine Öffnung in einen neuen Möglichkeits-Raum hinein, einen Digital-Realismus, der das Beste beider Welten verbindet. Er vermeidet das, was der radikale Internet-Kritiker Evgeny Morozov "Solutionismus" nannte, Lösungswahn. Digitale Technik ist, so Morozov, Technik auf der rasenden Suche nach Anwendungen, die vielleicht gar kein echtes menschliche Bedürfnis befriedigen. Die uns in die Irre führen, unsere sozialen und seelischen Bedürfnisse autricksen und überfahren.

 

Die Corona-Erfahrung stellt die Fragen ans Digitale neu – und äußerst konkret. Ist digitales Lernen wirklich die Antwort auf die Frage nach der Pädagogik der Zukunft? Nur begrenzt. Kann Telemedizin tatsächlich funktionieren? Allerdings, aber sie beantwortet nicht in Gänze die Frage, wie man Gesundheit human verbessert. Kann die Künstliche Intelligenz in Zukunft Seuchen verhindern? Neue Medikamente erfinden? Was im Kampf gegen das Virus ja tatsächlich geholfen hat, war die Veränderung menschlichen (Sozial)Verhaltens. Das war eine Erfahrung, die wir so schnell nicht vergessen werden.

 

Mitten in der Coronakrise, ging eine kleine Meldung durch die Medien: "GOOGLE-LAND IST ABGEBRANNT – die grösste Smart City der Welt in Toronto wird nicht gebaut." In einem riesigen Hafengebiet in Toronto hatte Sidewalk Labs, Googles Tochter für Smart Cities, ein riesiges Leuchtturm-Projekt geplant. Eine hochintelligente Stadt für 6000 Bewohner, 1,4 Milliarden Dollar teuer, mit dem Feinsten, was der utopische Digitalismus zu bieten hatte: Intelligenter Holzbau, robotisierte Haushaltsgeräte, smarte Tracking-Fahrräder, unterirdische Müllentsorgung, Krankenversicherung, deren Tarif sich nach den Daten der Nutzer richtet, Sensoren für Luftqualität und Bewegungsverhalten... Ein Paradies der Neuen Welt.

 

Fünf Jahre wurde dieses Flagship-Projekt der hyperdigitalen Moderne geplant. Und dann plötzlich abgesagt. Warum? Weil die Planung eines urbanen Utopias aus einem Digitalkonzern heraus unlösbare soziale Konflikte erzeugt. Städte, menschliche Lebensräume, lassen sich eben nicht von oben "technisch" planen. Sie müssen wachsen können, aus den sozialen Wirklichkeiten der Menschen heraus, aus den Beziehungen, und vielleicht auch aus den Konflikten. Der Datenraum, in dem dann Menschen angesiedelt werden, ist im Grunde eine unmenschliche Phantasie.

 

Anwendungen, die das Digitale wahrhaftig zukunftsfähig machen, brauchen einen anderen Ansatz. einen human-digitalen Ansatz:

  • Human Centered: Humane Grenzen, Verhaltensweisen, Psychologien, werden berücksichtigt und "eingepreist".

  • Rightsizing: Die Anwendung wird auf das richtige Maß, die adäquaten Maßstab beschränkt. Anstatt riesige Datenmaschinen zu bauen und Menschen darin zu "implementieren", reichen oft elegante Tools, die nachvollziehbar und kontrollierbar für die Anwender sind.

  • Ganzheitlich. Real-Digitale Anwendungen verbinden ökologische, ökonomische und ästhetische Dimensionen. Das ist das Neue Smart: Die Verbindung zwischen Materie, Humanität und informellen Systemen. Nicht mehr: Vollautomatisierung des Lebens zur Generierung von Daten.

 

Im Neuen Digital gilt es, die Fragen hartnäckig neu zustellen, die wir im digitalen Rausch lange Zeit vernachlässigt haben:

  • Warum ist das Digitale heute immer noch eine grundlegend männliche Domäne, geformt von technizistisch denkenden Nerds? (die Kulturfrage)

  • Warum führt das Digitale nicht zu dezentralen Welt- und Wirkungsformen, sondern zu gigantischen Monopolen, die ein arrogantes Eigenleben führen? (die Machtfrage)

  • Welche Wertschöpfungen lassen sich für digitale Kommunikation jenseits des Teufels-Deals "Kostenloser Zugang gegen Werbung" finden? (die Purpose(Sinn)-Frage).

 

PS: Ich bin ein Digital Native, seit der ersten Stunde. Ich liebe immer noch meinen Apple, aber schon vor langer Zeit habe ich alle meine Social-Medias Accounts gekündigt oder verweigert. Ich halte das für mentales Gift. Jetzt, so glaube ich, eröffnet sich ein neuer human-digitaler Raum, in dem neue Kombinationen in Innovationen möglich sind. Dies erfordert allerdings einen neuen Mut, eine neue Entschlossenheit von uns Nutzern der digitalen Technologie. Wir sollten uns für das Human-Digitale entscheiden – als Nutzer, Konsumenten, Bürger, selbstbewusste Individuen.

 

Ich trage, um klein anzufangen, nur noch Jeans der niederländischen Firma MUD. Diese realdigitale Jeansschneiderei hat alle Größen, Farben und Schnitte von Jeans im Angebot. Bio-Baumwolle, Fair Trade, keine schädlichen Chemikalien, faire Löhne, alles, was der Öko in mir haben will. Man kann die Jeans leasen, für rund 8 Euro im Monat, und wenn sie endgültig abgetragen sind, schickt man sie zurück. Dann werden sie fast vollständig in neue Jeans umgewandelt. Cradle-to-Cradle oder zirkuläre Ökonomie ist die Ökonomie der Zukunft. Ohne ein elegantes digitales System wäre eine solche Dienstleistung, ein solches Produkt, nicht möglich. Es verbindet Mode mit Umwelt mit Kommunikation, die Dinge mit den Nutzungen, das Analog mit dem Digital. Das ist die Zukunft. Greifen wir zu.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst bei "Die Wirtschaft".

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