Fachtagung E-Accessibility 2022

Wie digitale Barrierefreiheit zum Unternehmensstandard wird

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von René Jaun und lha

Die Richtlinien für barrierefreie digitale Inhalte sind wohlbekannt, doch angewendet werden sie längst nicht immer. Die Referierenden der Fachtagung E-Accessibility schilderten, wie sie dies ändern wollen, etwa bei Webagenturen, der Schweizerischen Post oder der ETH Zürich.

(Source: OstapenkoOlena / iStock.com)
(Source: OstapenkoOlena / iStock.com)

Wo steht die Schweiz in puncto digitaler Barrierefreiheit? Und wo besteht Handlungsbedarf? Antworten auf diese Fragen lieferten die Referierenden der virtuellen Fachtagung E-Accessibility, die am 17. November über die Bühne ging. Organisiert wurde die vierte Ausgabe des Events vom Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (EBGB) und zahlreichen Partnern, darunter Behörden, aber auch Unternehmen wie Swisstxt, die Schweizerische Post oder die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB). Durch den Vormittag und die deutschsprachigen Referate führte der schreibende Netzwoche-Redaktor René Jaun.

Redaktor René Jaun führte durch den Vormittag. (Source: zVg)

Kämpfen gegen Mythen

Wer eine Website oder eine App barrierefrei umsetzen will, kommt um die "Web Content Accessibility Guidelines" (WCAG) und die darin aufgeführten Prinzipien nicht herum. Doch mag die Existenz dieser Richtlinien bekannt sein - berücksichtigt werden sie längst nicht immer. In Designerkreisen würden die WCAG oft als Kreativbremse wahrgenommen, erklärte Florian Divis, Expert User Experience Designer bei Adnovum Informatik und bemühte sich, in seinem Vortrag mit diesem Mythos aufzuräumen. Tatsächlich habe nur ein kleiner Teil der WCAG-Kriterien einen Einfluss auf die Gestaltung an sich. "Der Kreativität sind kaum Grenzen gesetzt", führte Divis aus. Für ihn seien die WCAG sogar "eine unentbehrliche Hilfe", da sie ihm stichhaltige Argumente für bestimmte Lösungsansätze lieferten. Wichtig sei jedoch, das Thema Accessibility schon zu Beginn eines Projekts zu berücksichtigen. Ziehe man einen Accessibility-Spezialisten erst zum Schluss zu Rate, seien Frust und Ärger nicht verwunderlich.

Florian Divis, Expert User Experience Designer bei Adnovum Informatik. (Source: Screenshot)

Vom schlechten Ruf des Themas Accessibility berichtete auch Josua Muheim, eidgenössisch diplomierter Informatiker und freischaffender Accessibility Consultant. In seinem Vortrag gab er einen Einblick in seine Tätigkeit bei der inzwischen übernommenen Webagentur Nothing, bei welcher Muheim das Thema Accessibility nachhaltig etablierte. Tatsächlich sei es immer wieder gelungen, gewisse Ansprüche der Barrierefreiheit in Projekten zu platzieren, etwa guten Kontrast oder Tastaturbedienbarkeit. "Man war durchaus bereit zur Tat", lobte Muheim das Nothing-Team, "und immer wieder wurde das Thema aktiv bei Kunden platziert".

Josua Muheim, eidgenössisch diplomierter Informatiker und freischaffender Accessibility Consultant. (Source: zVg)

Gegen fehlendes Wissen

Doch zufrieden gab sich Muheim nicht: Es sei ihm nur punktuell gelungen, sein Wissen in den Köpfen und Arbeitsgewohnheiten der Mitarbeitenden zu verankern. "Digitale Barrierefreiheit hat kaum eine Chance, wenn nicht die Leute, welche die Produkte schlussendlich designen und umsetzen, sich die entsprechenden Fähigkeiten ausreichend aneignen können", schlussfolgerte er. Dies wiederum gelinge, indem das Thema "aus der Mottenkiste geholt", ansprechend und in kleinen Häppchen vermittelt werde, beispielsweise in Form eines Videoblogs. Warum digitale Barrierefreiheit so wichtig ist und worauf es dabei ankommt, lesen Sie im Fachartikel von Josua Muheim.

Dass es beim Thema E-Accessibility längst nicht mehr nur um Websites geht, zeigten Accessibility Consultant Mo Sherif sowie der Leiter Dienstleistungen Andreas Uebelbacher der Stiftung Zugang für alle. Anhand praktischer Beispiele führte der blinde Sherif vor, wie er mit Hilfe des Screen-Readers "Voiceover" Apps auf seinem iPhone nutzt. Gut kam dabei die App der SBB weg, die auch einen Gold-Award in der Kategorie UX & Usability der diesjährigen Best of Swiss Apps Awards gewann.

Accessibility Consultant Mo Sherif führt durch die SBB-App. (Source: Screenshot)

Neu zertifiziert die Stiftung Zugang für alle nicht mehr nur barrierefreie Websites, sondern auch Smartphone-Apps. Man wolle damit sowohl einen Anreiz, als auch eine Qualitätskontrolle für Anbieterinnen und Anbieter schaffen, heisst es dazu in einer Mitteilung. Aktuell sei das Gros der Schweizer Apps nicht barrierefrei, führte Sherif im Lauf der Fachtagung aus. Dies liege nicht an schlechtem Willen, sondern oft daran, dass viele Entwicklerinnen und Entwickler schlicht nicht wissen, dass auch blinde Menschen Apps verwenden können.

Barrierefreiheit im Grosskonzern

Mit Isabelle Haas hat die Schweizerische Post schon länger eine Fachverantwortliche für das Thema Accessibility. Neu gilt es beim Grosskonzern jedoch auch als Compliance-Thema. Damit wird es ähnlich behandelt wie die Themen Datenschutz und Antikorruption. In ihrem Vortrag präsentierte Haas einen Überblick über die verschiedenen Abteilungen der Post und machte deutlich, dass Accessibility in jeder Abteilung berücksichtigt werden muss.

Isabelle Haas, Fachverantwortliche für das Thema Accessibility bei der Schweizerischen Post. (Source: Screenshot)

"Compliance bietet ein Managementsystem, welches eine strukturierte Bearbeitung mit klaren Verantwortlichkeiten ermöglicht". Dabei werde ein risikobasierter Ansatz verfolgt und es werde über das ganze Unternehmen hinweg abgeklärt, wo etwa gesetzliche Bestimmungen einzuhalten seien. "Mit der Einbettung der Accessibility in die Compliance-Struktur, kann die gezielte Umsetzung nachgewiesen werden", sagte Haas.

Um auch Menschen mit Behinderung und Menschen mit besonderen Bedürfnissen einen weitgehend uneingeschränkten Zugang zu ihren Angeboten zu ermöglichen, macht auch die ETH Zürich bei der Barrierefreiheit vorwärts. Man sei "Schritt für Schritt unterwegs", sagte Manu Heim, Accessibility Expert und Projektleiterin "Barrierefreie Kommunikation" an der ETH Zürich. Sie prüft unter anderem alle neu aufgeschalteten Webkomponenten hinsichtlich Barrierefreiheit, und man biete auch regelmässige Sensibilisierungsveranstaltungen an. Das vier Jahre laufende Projekt sei inzwischen zu rund 40 Prozent abgeschlossen, fasste Heim zusammen.

Manu Heim, Accessibility Expert und Projektleiterin "Barrierefreie Kommunikation" an der ETH Zürich. (Source: Screenshot)

Zu den Herausforderungen gehört unter anderem "die Nicht-Verfügbarkeit externer Dienstleistungen". Namentlich seien manche der von der ETH Zürich bezogenen externen Services nicht barrierefrei, präzisierte Heim in der Schlussdiskussion. Doch auch intern seien bestimmte Player mitunter nicht verfügbar - "manchmal auch gekoppelt an ein gewisses Unverständnis für das Thema". Hier gelte es, am Ball zu bleiben, nach dem Motto "steter Tropfen höhlt den Stein."

Mehr zum Thema digitale Accessibility lesen Sie im Themenschwerpunkt der Netzwoche Nr. 04 / 2022.

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